Impulse für FELIX

Michael Pilz

Text zur gleichnamigen Straßenbahn- und Autobusaktion in Linz von Erwin Puls, 1979, erschienen in „über Puls“, Herbstpresse, Wien 1989

Passionierte Kinofreaks wissen es: Jeder Film besteht zumindest aus zwei Geschichten. Die eine Geschichte läuft durch den Projektor, die andere bringen wir selbst ins Kino mit.

Die eigentliche Wirklichkeit im Kino ist somit der Zwischenraum zwischen fremder und eigener Geschichte, ein Raum zum Hinschauen, zum Herzeigen und alles passiert im Rahmen feuerpolizeilicher Gesetze, nichts kann tatsächlich berühren, verletzen, ins Unheil führen, alles ist nur simuliert und mit der ordnungsgemäßen Bezahlung des Eintrittsgeldes ist man automatisch distanzversichert.

Das umgangssprachliche Reden von den bewegten, von den laufenden Bildern trifft nur die halbe Wahrheit und diese auch nicht ganz: Den technischen Vorgang im Projektor, in dem der Film gleichmäßig zwischen Lichtquelle und Objektiv vorbeiläuft: genau betrachtet wird er zwar gleichmäßig fortbewegt, aber dazwischen auch immer wieder angehalten. Eben von Bild zu Bild.

Wenn ein Film gewöhnlich mit einer Laufgeschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde vorgeführt wird und 90 Minuten Laufzeit hat, dann sehen wir, Interesse vorausgesetzt, genau 129.600 Bilder, Einzelbilder, hintereinander. Jedes dieser Bilder wird für den Bruchteil einer Sekunde angehalten und dadurch erst sichtbar, um gleich darauf sich dem Anblick wieder zu entziehen, um einem nächsten Bild Platz zu machen. Dieses kann dasselbe wie das vorangegangene oder ein gänzlich anderes sein, in jedem Fall erzeugt unser komplizierter psycho–physischer Wahrnehmungsapparat zwischen dem zweiten und dem zuvor gezeigten ersten Bild eine Verbindung, es entsteht eine „Geschichte“.

Wen n wir der physiologischen Trägheit unserer Augen und Nerven auch noch all die uns unbewusst und bewusst bewegenden Sehnsüchte und ängste addieren und uns dermaßen ausgerüstet und bewaffnet entweder im Kino oder im so genannten Leben das einzelne Bild oder gar gleich alle 129.000 Bilder zu machen versuchen, werden wir, auch gegen vehementes, trotzendes Sträuben, unsere Wunder erleben. Wir schaffen es nämlich nicht. Und häufiger noch wollen wir es nicht, das Bild der Tatsachen und damit der Ent–Täuschung.

Wir sehen – im Kino wie im Leben – die Bilder solange, solange sie uns Eindruck machen, dann schauen wir weg. Ein Zeichen dafür, dass sie uns langweilen, dass etwas anderes mehr Eindruck macht. Aber auch das Wegschauen kann tatsächlich oder auch eingebildet geschehen. Wir haben großes Talent für's Hinschauen und für's Doch–Nicht–Sehen.

So können wir zwar sagen, angesichts eines vorgeführten – projizierten – Films haben wir es mit vorüberlaufenden, bewegten Bildern zu tun, doch eigentlich bewegen tun wir uns.
Die Ausrede ist der Film. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass ein Ausdruck äußerlicher Ruhe (z.B. eingezwängt zwischen vielen anderen Menschen im Kino sitzend, gebannt nach vorne blickend, gefesselt, sich sozusagen selber vergessend) gleichzeitig ein Ausdruck für innere Spannung und Bewegtheit ist.

Wenn Erwin Puls nun 300 Einzelbilder (fotografische Unikate) in 100 Waggons der Linzer Straßenbahn oder Autobusse verfrachtet und diese bewegen die Bilder tagelang durch Linz, dann ist das auch ein Kino, ein Film, obwohl alleine schon der Gedanke ans Warten in der Straßenbahnstation, ans Umsteigen, ans Anschluss–Finden–Wollen, an die Gefahr des Runden–Fahrens, der Wiederholung, des Etwas–übersehens oder gar des Kein–Ende–Findens – alles im Rahmen der Realität eines schienengebundenen, öffentlichen Verkehrsmittels – das ganz gewöhnliche Kinovergnügen, die pure Lust am Hinschauen und Zuhorchen vergällen mag.
Da plagt man sich dann tagelang mit passenden connections und stellt am Ende – an welchem? – einfach fest, so wird es doch kein richtiger Film.
Aber wie sonst sollte man – redliche Absicht vorausgesetzt – Bilder durch die Stadt verführen?

Ausgehend von Begriffen, von Tatsachen.
Den Film einmal einfach beim Wort nehmen, Bilder bewegen, sich wirklich mühen, analytisch, logisch, alle nur erdenklichen Umstände vermessen, kalkulieren, über die Bilder Bewegungen erzeugen, verführen, verzaubern, enttäuschen. Mit Bildern spielen. Buchstaben, Wörter, Begriffe und Sätze sind – gedruckt – auch Bilder.

Man sitzt – als junger Mensch hat man zu stehen – wieder suchend oder schon demütiger werdend, abwartend, in der Straßenbahn oder im Autobus und entdeckt wieder eines der Fotos, eines, das man bisher, trotz angestrengter, vielleicht überanstrengter Wachheit, noch nicht gesehen hat. Oder hat man es schon vergessen? Hier weint sie, die blassblonde Schönheit, hinter der vorgehaltenen Hand zur Hälfte das Gesicht verdeckt. Glanz auf den Augenlidern. das viele Weiß im Bild und die schwachen Grautöne (selbst die der Schrift) verhindern den Vergleich mit anderen, öffentlich affichierten Bildern. So rückt dieses Foto wie von selbst ins Rampenlicht. Und doch scheint es sich gleichzeitig dem plumpen Zugriff zu entziehen.

Wie immer, wenn sie auftaucht, gibt sie sich nur durch ihr Gesicht zu erkennen. Gesichter reden. Darunter ein Halbsatz, „noch recht gut vertragen, so sollte es wieder werden.“ und darunter noch die lakonische Antwort von FELIX: Ein philosophisches statement zum Thema Wahrheit, so, als gäb's ihren Kummer nicht, so, als wollte er ihr mit seiner Wahrheits–Weisheit den Kummer vertreiben und kann es aber nicht. Oder auch so, als wäre sie eben über FELIX, den Siebengescheiten, der alles weiß und kontrolliert und im Griff und auf alles eine passende Antwort hat, verzweifelt, erzürnt. Sicher ist, so geht es nicht mehr weiter. Doch jeder weiß, es geht.
Und da ist man längst in ganz anderen Geschichten, in anderen Filmen, mitunter einem eigenen.

Manchmal erinnert man sich des vorhergegangenen Bildes, an das von gestern, vom Vormittag, ihr Lachen, ihr Lächeln, iohre Verzückung, oder die Langeweile, auch ihren ärger, die Wut – erinnert sich der eigenen Momente höchsten Glücks und tiefster Trauer – und jedes Mal diese beliebig scheinende Textzeile, inmitten eines Wortes beginnend und keinen Sinn ergebend und darauf promt die so sinnfällig–strotzende Antwort, nein, Feststellung des FELIX (den keiner kennt), was ist mit der Wahrheit diesmal los.
Vermutungen.
Spekulationen.

Film ist eine Entdeckung und Entwicklung und ein Spiel von Menschen, die allesamt ein Interesse zu haben scheinen: Etwas zeigen, etwas sehen, etwas bezeugen, etwas auf der Lauer liegen, etwas nicht verlieren, etwas erinnern, sich der Dinge wie der Erscheinungen vergewissern, entdecken, wie es wirklich ist, im Dialog, einschließlich und jenseits aller ängste, Wünsche und Illusionen.

Bela Balazs, der Filmtheoretiker, meinte, der Film sei die Kunst es Sehens und bliebe nicht die Kunst jener, die so oft nicht hinsehen wollen.
Und Erich Fromm, der Psychoanalytiker, schrieb, „gleich, ob es sich um übertragung, Projektion oder Rationalisierung handelt, das meiste von dem, dessen sich der Mensch bewusst wird, ist Einbildung, wogegen das, was er verdrängt (d.h. das Unbewusste) wirklich ist.“

Puls' „Impulse für FELIX“ sind nicht mehr und nicht weniger als das, was sie versprechen, denjenigen, die der Sprache annähernd kundig und des Sprechens annähernd fähig sind, fähig sein möchten.

© Michael Pilz

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